Über »Finding Tengelmann«

Am 07. April 2018 verschwindet Karl-Erivan Haub, Geschäftsführer der Tengelmann KG, bei einer Ski-Exkursion in den Walliser Alpen. Als sein Verschwinden am frühen Abend auffällt, beginnt eine beispiellose Suche nach dem damals 26st-reichsten Deutschen. Helikopter und Bergretter starten in ein umschlagendes Wetter, das bald darauf jegliche Sucharbeiten massiv beeinträchtigt. Trotz wochenlanger Suche wird Karl-Erivan Haub nicht gefunden und auch zwei Jahre später hat ihn seine Familie nicht für tot erklärt. Karl-Erivan Haubs ungeklärtes Schicksal ist der Anfang unserer Auseinandersetzung mit einer Geschichte, die von ihrem mehrfach fehlenden Ende geprägt ist.

Laut der Diagnose des Soziologen Carlo Bordoni ist unsere Gegenwart geprägt von einem Interregnum. In seiner ursprünglichen Bedeutung meint dieser Begriff die Zeit und das Warten zwischen dem Ende der Regentschaft eines Herrschers und der Machtergreifung eines anderen. Der sterbende Herrscher ist für Bordoni die Moderne und mit ihr stirbt im Interregnum der Glaube an ihre Narrative. Daraus ergibt sich für Bordoni das Interregnum als eine Periode der Zerrissenheit, eine Krise von moralischen Werten und ein Zustand spürbarer Regellosigkeit, sowohl für soziale und kulturelle Strukturen als auch für die Individuen, die diesen Strukturen begegnen.

Die Desillusion über die Versprechen der Moderne hat dazu geführt, dass wir als Kinder des Interregnums fast obsessive Beobachter unserer Zeit sind. Wir denken und reden in Reflexionsschleifen, »iterativ« ist unser Lieblingswort, wir sind hypersensibel für Referenzen. Mit all dem kommt das sichere Bewusstsein, dass »single narratives« der Wahrheit nicht entsprechen können. Um sich einer Sache zu nähern, benötigt es ein Kaleidoskop von Geschichten, die Vielheit von Aspekten. Die daraus resultierende Komplexität entzieht sich oft einem eindeutigen Urteil. Der französische Philosoph Francois Lyotard beschrieb diesen postmodernen Zustand als »das Ende der großen Erzählungen« (Lyotard, 1979, S. 7).

Die Autorin Kathrin Röggla prägt den Begriff der Zwischengeschichte als Versuch, angemessen auf diese zeitgenössische Kondition zu reagieren. Röggla meint damit Geschichten, »die sozusagen noch unterwegs sind und nicht immer schon angekommen« (Röggla, 2017). Eine Zwischengeschichte soll »ein Gängesystem freilegen können zu anderen Geschichten hin« (ebd.).

Es geht also darum, Geschichen zu erzählen, die im doppelten Sinne »dazwischen« sind. Sie müssen das Dazwischen-Sein unserer Zeit abbilden und gleichzeitig als Vermittler zwischen ihren disparaten Positionen agieren. Scheinbare Unvereinbarkeiten werden damit aufgelöst – oder erst sichtbar gemacht. »Es werden sich sicher nur unfertige Geschichten ergeben können, solche, die noch lange nicht mit sich fertig sind, denn sie enthalten immer Fäden, die nach außen reichen« (ebd.).

Das Verschwinden von Karl-Erivan Haub ist allein durch das fehlende Ende eine solche »unfertige« Zwischengeschichte. Eben diese Rauheit ist der Grund ihres elektrisierenden Reizes. Um sie zu verstehen, mussten wir umliegende Geschichten und Konstellationen auftun, von denen sich ihrerseits einige noch im Prozess befanden und es bis heute tun. Das Unternehmen, das Karl-Erivan Haub leitete, seine Kunden, aber auch die Mächte unserer Zeit, die auf uns wie auf den Tengelmann-Kosmos wirken.
Dieses Unternehmen begegnete uns während unserer Arbeit selbst als Interregnum. Zu Beginn unserer Projektphase hieß die Holding noch Tengelmann Warenhandelsgesellschaft KG, seit dem 01.01.2020 heißt sie Tengelmann Twenty-One KG, wegen des 21. Jahrhunderts. In Zeiten, die die häufig Sichtbarkeit als höchstes Gut verstehen, zieht sich das Unternehmen allerdings aus der Lebenswelt ihrer Kunden zurück.